Panel 5 - Übergriffe auf Minderjährige im Betreuungskontext / Unterstützung von Terroropfern / Sozialnetzkonferenz zur Vermeidung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen
09:00 – 10:30 Uhr im HS B, Hof 2
Moderation: Dieter Dölling
Sexueller Missbrauch an Minderjährigen in der deutschen katholischen Kirche
Dieter Dölling (Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg)
Dieter Hermann (Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg)
Barbara Horten (Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg)
In dem Vortrag wird über die Ergebnisse eines Forschungsprojekts über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in der deutschen katholischen Kirche berichtet. Das Projekt wurde im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von einem interdisziplinären Forschungskonsortium durchgeführt. Es wurden u.a. Personalakten der Kirche für den Zeitraum 1946 bis 2014 ausgewertet, Strafakten analysiert und Interviews mit Betroffenen und Beschuldigten geführt. Nach der Personalaktenanalyse wurden 1.670 Kleriker des sexuellen Missbrauchs beschuldigt (das sind 4,4 % aller Kleriker) und wurden 3.677 von sexuellen Übergriffen Betroffene ermittelt. Die Betroffenen waren ganz überwiegend männlich. Im Zeitpunkt des ersten Missbrauchs waren sie durchschnittlich 12 Jahre alt. Zahlreiche Betroffene wurden mehrfach viktimisiert, die Tatfolgen für die Betroffenen waren teilweise schwerwiegend. Den Beschuldigten wurden überwiegend mehrere Taten vorgeworfen. Die Mehrheit der Taten war geplant. Mehrheitlich handelte es sich um Hands-On-Handlungen. Die katholische Kirche reagierte auf bekannt gewordene Taten vielfach mit Versetzungen der Beschuldigten. Kirchenrechtliche Verfahren endeten nur in einer begrenzten Zahl von Fällen mit schwerwiegenden Sanktionen. Staatliche Strafverfahren mussten häufig wegen Verjährung der Tatvorwürfe eingestellt werden. Die Befunde zeigen, dass es sich bei den Taten nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner handelt, sondern für die Delinquenz auch spezifische Strukturmerkmale der katholischen Kirche von Bedeutung sind. Es wird erörtert, welche Konsequenzen sich aus den Befunden für die Prävention und die Reaktion auf bekannt gewordene Taten ergeben.
Funktionsträger und ihr Gewaltverhalten in Einrichtungen der Regensburger Domspatzen von 1945 bis 1995 – eine Typologie
Matthias Rau (Kriminologische Zentralstelle (KrimZ))
Seit fast zehn Jahren stehen die Gewalterfahrungen ehemaliger Schüler der Regensburger Domspatzen, dem weltbekannten Knabenchor, im öffentlichen Fokus. Zur Aufarbeitung des Leids übertrugen die Diözese Regensburg und die Stiftung Regensburger Domspatzen im Jahr 2015 einer unabhängigen Rechtsanwaltskanzlei die Aufgabe, die Gewalt in den Einrichtungen zu untersuchen und einen Bericht vorzulegen (vgl. Weber/Baumeister 2017). Des Weiteren beauftragten sie die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ), ab 2017 eine soziologische und den Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte der Universität Regensburg, eine historische Studie zu den Ursachen und Mechanismen der Gewalt auszuarbeiten.
Der Vortrag berichtet über die Ergebnisse der soziologischen Regensburger Aufarbeitungsstudie mit ihrem Untersuchungszeitraum von 1945 bis 1995. Für die Analyse wird in der Studie, wie in anderen Aufarbeitungsstudien innerhalb des deutschsprachigen Raums auch, zwischen physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung unterschieden.
Der erste Teil des Vortrags wird kompakt in den Aufarbeitungsprozess, die Forschungsfragen und den methodischen Ansatz der qualitativen Studie einführen. Schwerpunkt der Darstellung sind sodann die Funktionsträger und ihr Gewaltverhalten. Eingegangen wird auf den verwendeten Beurteilungsmaßstab zur kriminologischen Analyse des Gewaltverhaltens und die hergeleitete Typologie für Gewalttäterinnen und -täter in institutionellen Kontexten. Auf die Wechselwirkungen der kriminellen Gefährdung der Funktionsträger (Mikroebene) und der institutionellen Risikostrukturen (Mesoebene) wird kursorisch eingegangen. Überlegungen zur Prävention schließen den Vortrag ab.
Psychosoziale Bedürfnisse Betroffener von Terroranschlägen und adäquate Unterstützungsangebote aus kriminologisch-viktimologischer und psychologischer Perspektive
Vincenz Leuschner (Hochschule für Wirtschaft und Recht)
Durch den terroristischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19.12.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, ist die Relevanz einer frühen, umfassenden und wirkungsvollen Unterstützung von Betroffenen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Terroristische Attentate stellen extreme kollektive Krisen dar, in deren Nachgang es bei Betroffenen häufig zum Eindruck einer mangelnden Beherrschbarkeit von Risiken und einer eingeschränkten Zuverlässigkeit planenden Handelns kommen kann. Die von den Tätern intendierte Störung oder Zerstörung der Alltagsroutinen und Interdependenzen in den zentralen gesellschaftlichen Funktionssystemen kann eine Erschütterung des alltäglichen Hintergrundvertrauens nach sich ziehen (Clausen et al., 2003). Unter viktimologischen Gesichtspunkten erscheint somit die Erzeugung einer sekundären Viktimisierung ganzer Bevölkerungsgruppen als ein Spezifikum der Gewalttaten – bei primär Betroffenen muss darüber hinaus die symbolische Bedeutung der Tat und damit einhergehende Rollenzuschreibung als gesellschaftliches „Stellvertreteropfer“ vor dem Hintergrund adäquater Unterstützungsangebote in den Blick genommen werden (Pemberton, 2010). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den psychosozialen Bedürfnissen der Betroffenen nimmt hingegen mehrheitlich keine klare Unterscheidung von terroristischen Taten mit anderen Großschadenslagen vor (vgl. Hobfoll et al., 2007) und differenziert selten zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Betroffenenbedürfnissen (vgl. Ivanovic et al., 2017). Während im Nachgang des Breitscheidplatzattentats die Schaffung zentraler Opferanlaufstellen in einzelnen Bundesländern beschlossen wurde, ist demnach weitestgehend unklar, welche spezifischen psychosozialen Opferbedürfnisse in der Akutsituation eines Terrorattentats anzunehmen sind und wie primär Betroffene in der unmittelbaren Situation unterstützt werden können. Dieser Fragestellung widmet sich das interdisziplinäre Forschungsprojekt PSNVnet, dessen Forschungsgegenstand die Funktionsweise der psychosozialen Notfallversorgung im Zusammenspiel aller Akteure in der Akutphase des Einsatzes nach dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz ist. Durch die rekonstruktive Untersuchung des unmittelbaren Einsatzgeschehens anhand von ethnografischen Interviews mit den vor Ort eingesetzten Ersthelfern der Notfallseelsorge/Krisenintervention Berlin, werden Ableitungen über spezifische Betroffenenbedürfnisse und korrespondierende Unterstützungsangebote getroffen. Es werden erste Ergebnisse der qualitativen Analysen präsentiert, wobei der Fokus auf kriminologisch-viktimologischen sowie psychologischen Aspekten liegen wird.
Sozialnetzkonferenz zur Vermeidung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen
Georg Wielaender (NEUSTART)
In Österreich gibt es seit einigen Jahren das Angebot des Vereins NEUSTART an die Gerichte, nach der Verhängung der Untersuchungshaft über Jugendliche, den Verein NEUSTART zu ersuchen, eine Sozialnetzkonferenz durchzuführen. Ziel ist die Vermeidung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen bzw. deren Enthaftung und als Alternative ein Betreuungsnetz zu aktivieren, um den Jugendlichen - alternativ zur Untersuchungshaft - in Freiheit zu betreuen. Wesentlicher Fokus einer Sozialnetz-Konferenz ist das Aufspüren vorhandener Ressourcen im Sozialen Umfeld eines delinquenten Jugendlichen und deren Nutzbarkeit als "Soziales Kapital".