„Sag, wie hast du’s mit der Kriminologie?“ – Die Kriminologie im Gespräch mit ihren Nachbardisziplinen

Panel 29 - Vorurteilsgeleitete Kriminalität / Dunkelfeldforschung in Entwicklungsländern

16:00 – 18:00 Uhr im HS B, Hof 2

Moderation: Frank Neubacher

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und vorurteilsgeleitete Straftaten

Yvonne Krieg (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen)

Vorurteilsgeleitete Straftaten umfassen alle strafrechtlich relevanten Handlungen, die durch Vorurteile gegenüber bestimmten Merkmalen des Opfers (wie beispielsweise Herkunft, Sexualität, Geschlecht) motiviert sind und dabei das Sicherheitsgefühl der gesamten betroffenen sozialen Gruppe bedrohen können. Kennzeichnend für diese Art von Straftaten ist, dass sie sich in der Regel nicht an eine bestimmte Person richten, sondern die Opfer insofern austauschbar sind, als dass sie als Repräsentant*innen ihrer sozialen oder ethnischen Gruppe verstanden werden. Um die Frage zu beantworten, warum Personen solch eine Straftat ausführen, ist es sinnvoll, sich die Einstellungen der Täter*innen gegenüber der betreffenden Gruppe anzuschauen. Obwohl vorurteilsbehaftete Einstellungen prinzipiell in jeder Altersgruppe auftreten, weisen verschiedene Studien daraufhin, dass das Ausmaß von Vorurteilen ihren Höhepunkt im Alter von 14 bis 15 Jahren aufweist. Ebenso kann gewaltförmiges Verhalten bzw. Gewaltbereitschaft insbesondere als ein Phänomen des Jugendalters verstanden werden. 

Die Präsentation stellt zum einen die Prävalenzen von Vorurteilen und vorurteilsgeleiteten Straftaten einer repräsentativen Schülerstichprobe aus dem Jahr 2018 mit 2.824 Schüler*innen in Schleswig-Holstein vor. Zum anderen wird untersucht, ob die Existenz von Vorurteilen mit der Ausübung von diskriminierenden Verhaltensweisen als Sonderfall der "Einstellung-Verhalten-Hypothese“ in Zusammenhang steht. Erste Ergebnisse zeigen, dass Vorurteile gegen (vermeintlich) ausländische Personen, Menschen mit Behinderungen, homosexuellen und obdachlosen Personen mit der Ausführung von mindestens einer Tat gegenüber der jeweiligen Gruppe korrelieren. Die Ergebnisse bleiben konstant, wenn ebenso für andere Korrelate von vorurteilsgeleiteten Straftaten kontrolliert wird. Andere wichtige Korrelate stellen die Kontakterfahrungen in die rechtsextreme Szene, das Ausmaß von Vorurteilen von Freund*innen sowie die subjektiv eingeschätzte (hypothetische) Reaktion von Freund*innen auf eine Diskriminierungstat dar. Diese Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass es für die Prävention von vorurteilsgeleiteten Straftaten wichtig ist, bereits bei der Entwicklung von Vorurteilen einzugreifen. 


Ethnisch, rassistisch und religiös motivierte Gewaltkriminalität in NordrheinWestfalen 2012-2016. Taten – Täter(gruppen) – Täter-Opfer-Konstellationen

Cornelia Weins (Ruhr-Universität Bochum) 
Sebastian Gerhartz (Ruhr-Universität Bochum) 

Die Zahl der offiziell registrierten, fremdenfeindlichen Straftaten ist im Kontext der Fluchtzuwanderung nach Deutschland und der damit einhergehenden rechtspopulistischen Mobilisierung gegen Zuwanderung sprunghaft angestiegen. 2016 wurde in Deutschland offiziell die höchste Zahl fremdenfeindlicher Gewaltdelikte seit Einführung des aktuellen Erfassungssystems im Jahr 2001 registriert. Vor diesem Hintergrund untersucht ein laufendes Forschungsprojekt (07/2018-09/2020, www.methoden.ruhruni-bochum.de/empirische-sozialforschung/forschung-und-projekte/violent-hate-crimes-in-north-rhinewestphalia-2012-2016.html) ethnisch, rassistisch und religiös motivierte Gewaltkriminalität in NordrheinWestfalen zwischen 2012 und 2016.

Im ersten Teil des Projektes wurden für alle von der Polizei als Hasskriminalität eingestuften Gewaltdelikte im Erhebungszeitraum in Nordrhein-Westfalen (Grundgesamtheit) Daten zu Vorurteilsmotivationen, Taten, (Mehrfach-)Tatverdächtigen und Opfern aus den Dokumenten des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes Politisch Motivierte Kriminalität erhoben. Als Vergleichsgruppe wurden zudem Gewaltdelikte „Rechts gegen Links“ erfasst. Die neben den standardisierten Informationen (Tatzeit, Tatort etc.) in den Dokumenten enthaltenen Sachverhaltsbeschreibungen (offene Freitexte) wurden dabei genutzt, um Daten zu gewinnen, die über die offizielle Statistik hinausgehen, bspw. zu Vorurteilsmotivationen, Zielgruppen, Tathandlungen oder Täter-Opfer-Beziehungen. Im zweiten (noch laufenden) Projektschritt wird eine Auswahl an Fällen des ersten Projektschritts anhand von Strafverfahrensakten vertiefend analysiert. 

Im Vortrag werden Ergebnisse des ersten Projektschritts zu (a) Ausmaß und Entwicklung ethnisch, religiös und rassistisch motivierter Gewaltkriminalität, (b) Taten/Tathandlungen, (c) Tatverdächtigen und Tätergruppen sowie d) Täter-Opfer-Konstellationen präsentiert. Die Analysen geben Aufschluss über Veränderungen in den Vorurteilsmotivationen (z.B. Anstieg antisemitischer/islamfeindlicher Taten?) und Opfergruppen ebenso wie über die Qualität/Schwere der Tathandlungen, die Tatverdächtigen (Mehr Täter aus der Mitte der Gesellschaft?) und Mittäterschaften im Kontext der hohen Fluchtzuwanderung und verstärkten rechtspopulistischen Mobilisierung im Erhebungszeitraum. Für Nordrhein-Westfalen sind aufgrund von Vorgängerstudien (z.B. Willems/Steigleder 2003) zudem längerfristige Vergleiche möglich. 

Willems, H./Steigleder, S. (2003) Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Vol. 5, 1/2003, S. 4-28


Hate Crime – Die Erfassung vorurteilsgeleiteter Kriminalität im Deutschen Viktimisierungssurvey 2017

Daniel Church (Bundeskriminalamt Deutschland)

Das Ausmaß und die Entwicklung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist im Kontext aktueller gesellschaftlicher Veränderungen Gegenstand vielfältiger Diskussionen. Um diesen häufig emotional geführten Debatten einen evidenzorientierten Diskursverlauf zu ermöglichen, bedarf es einer validen empirischen Grundlage. Das Aufkommen vorurteilsgeleiteter Kriminalität nimmt hierbei eine zentrale Rolle ein. 

In Deutschland wurden im Jahr 2018 insgesamt 8.113 Straftaten in der bundesweiten Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK) polizeilich erfasst, die durch gruppenbezogene Vorurteile motiviert waren. Damit nahm das Aufkommen im Vergleich zum Vorjahr leicht zu, als 7.913 Straftaten der gleichen Kategorie zugeordnet wurden. Unabhängig von der phänomenologischen Präzision der polizeistatistischen Klassifizierung erfassen diese Zahlen lediglich das polizeiliche Hellfeld, also alle der Polizei bekannt gewordenen Fälle. Das Gesamtaufkommen vorurteilsgeleiteter Kriminalität schließt hingegen das sogenannte relative Dunkelfeld mit ein, also zahlreiche Fälle, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt wurden. Informationen über das Ausmaß des Dunkelfeldes sind von erheblichem sicherheitspolitischen Interesse und ermöglichen Einschätzungen, ob Veränderungen im polizeilichen Hellfeld auf tatsächliche Veränderungen des Kriminalitätsaufkommens zurückzuführen sind oder ob sie aus Verschiebungen zwischen Hell- und Dunkelfeld resultieren. Für die empirische Erfassung des Dunkelfeldes bedarf es Methoden der quantitativen Sozialforschung, obgleich dies – insbesondere im Bereich der vorurteilsgeleiteten Kriminalität – mit einigen Herausforderungen einhergeht. 

Im Vortrag werden einleitend das Konzept hate crime und die methodischen Schwierigkeiten bei der Erfassung des Dunkelfeldes im Bereich vorurteilsgeleiteter Kriminalität dargestellt. Des Weiteren werden die Methodik zur Erfassung von vorurteilsgeleiteter Kriminalität im Deutschen Viktimisierungssurvey 2017 (DVS 2017) sowie die zentralen empirischen Ergebnisse vorgestellt. Der DVS 2017 ist eine für Deutschland repräsentative computergestützte Telefonbefragung mit etwa 31.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur Erfassung des Kriminalitätsaufkommens und des Dunkelfelds, des Sicherheitsempfindens in der Bevölkerung und der Wahrnehmung von Polizei und Justiz. Eine Diskussion der Methodik und der präsentierten Ergebnisse wird den Vortrag abschließen. 


Rural Criminology im globalen Süden – Probleme, Befunde und Potentiale kriminologischer Dunkelfeldforschung in Entwicklungsländern

Frank Neubacher (Institut für Kriminologie der Universität zu Köln) 
Ulrike Grote (Leibniz Universität Hannover)

Rund die Hälfte der Menschheit (Tendenz: steigend) wohnt gegenwärtig in Städten, aber 75% der Armen in Entwicklungsländern leben auf dem Lande. Diese Menschen stehen nicht nur ökonomisch, sondern auch kriminologisch im Abseits, denn die Kriminologie hat sich bisher nur wenig mit dem ländlichen Raum oder dem globalen Süden beschäftigt. Die Kombination beider Perspektiven spielt praktisch keine Rolle. Der International Crime Victims Survey (ICVS) stellt eine Ausnahme dar, hat allerdings in Entwicklungsländern vornehmlich auf städtische Stichproben zurückgegriffen. 
Im Anschluss an die Bestrebungen, eine Rural Criminology zu etablieren, nimmt der Vortrag die Situation im globalen Süden in den Blick und fragt danach, was wir kriminologisch über Kriminalitätsphänomene und den Umgang mit ihnen überhaupt wissen können. Die Vortragenden bilanzieren den Forschungsstand und stellen eigene Forschungsergebnisse aus Afrika vor. Sie plädieren für eine Hinwendung der Kriminologie zum globalen Süden – zum einen weil die dortige Situation Auswirkungen auf den globalen Norden hat (z.B. Migration), zum anderen weil es vorrangig um die Verbesserung der Lebensbedingungen der „global poor“ gehen muss, wie sie in den Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen 2015 als Ziel ausgegeben wurde. 

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