Panel 21 - Beziehungen und Sichtweisen im und zum Vollzug von Freiheitsstrafen
14:00 – 15:30 Uhr im HS B, Hof 2
Moderation: Michael Roth
Distanz und Nähe Justizvollzugsbediensteter zu Gefangenen - Beobachtungen, Überlegungen und Folgerungen
Michael Roth (Kriminologischer Sachverständiger)
Ausgangspunkte dieser Erörterung sind Alltagssituationen in verschiedenen Vollzugsformen. Die Kernfrage: Welche Aspekte von Verhalten und Strukturen sind zu beachten, um angemessene Distanz und Nähe zwischen Beschäftigten und Gefangenen im Alltagsverhalten zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Über die Beobachtung von angemessener Entfernung hinausgehend, scheinen stärker theorieimprägnierte Erörterungen notwendig, um komplexe Maßnahmen (Regelungen, Vermittlungsformate etc.) im Funktionssystem zu verstehen und verantwortlich institutionalisieren zu können.
Vielfältige Zusammenhänge und Dilemmata sind zu berücksichtigen: elementare soziale Prozesse vs. vermeintlich universale Regeln, Stress und 'falsche' Solidarisierungen, von Anerkennungszerfall, Traumatisierung und Radikalisierung. Die Bearbeitung der Zusammenhänge orientiert sich an Anforderungen an das gesellschaftliche Funktionssystem Justizvollzug 'nach Stand der Technik', also ergebnisorientiert im Sinne des sogenannten New Public Managements.
Der kommunikative Aspekt des Themas führt zu hohen Anforderungen an die Empathie und das systembezogene Rollenverständnis der einzelnen Beschäftigten aller Funktionen und Ebenen. Der systemische Aspekt einer öffentlichen Institution - als nur von ihrem Ergebnis her zu rechtfertigender Komplexität - führt zu hohen Anforderungen an die Vernetzung zu institutionalisierender Methoden und Instrumente – und in der Summe zu hohen Anforderungen an die Verantwortlichen, an Leitungsinstanzen und an die Führungskräfte vor Ort: (a) effektive Verknüpfung ergebnisorientierter Personalentwicklung, (b) beteiligten-, betroffenen und zielorientierter Lageauswertung, (c) an critical incidents orientierten Wissensmanagement, (d) einer zielgruppen-differenzierten internen Öffentlichkeitsarbeit, (e) systematischen Angebots von Supervision und Sozialen Ansprechpersonen, also einer integrierten Bearbeitung von Belastungen der Beschäftigten.
Wird auch der Justizvollzug, wie regelmäßig bekundet, als lernende Organisation (selbst-)verstanden, scheint es angezeigt, 'klassische Denkweisen' aufzugeben: (a) Distanz und Nähe räumlich zu konzeptualisieren und (b) formale Organisationen mechanisch als Container von Personen, Regelungen, Kontrollhandlungen u. ä. m. zu verstehen. Es geht vielmehr um mitlaufendes Reflektieren auf Organisieren als immer neue performance: mehr um Improvisieren als darum, vermeintlich fertige Vorgaben umzusetzen. Die Chance auf kommunikationspraktisch nachhaltiges Organisieren und Steuern liegt in der Komplexität von wirksamen Perspektivwechseln.
Konsequenzen der Binnendifferenzierung für Gewalt und Klima im Justizvollzug
Stefan Suhling (Krimininologischer Dienst Niedersachsen)
Justizvollzugsanstalten sind „so zu gestalten und zu differenzieren, dass Ziele und Aufgaben des Vollzuges gewährleistet werden" (§ 173 Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz, vgl. § 141 StVollzG). Dazu gehört unter anderem, die Gefangenen so unterzubringen und zusammenzufassen, dass die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Übergriffe möglichst gering ist und die Resozialisierung der Gefangenen gefördert wird.
Veränderungen in der Klientel der Inhaftierten haben die niedersächsische Jugendstrafanstalt dazu bewogen, diejenigen in einer Abteilung zusammenzufassen, die im Hinblick auf ihr innervollzugliches Gewalt- und Unterdrückungspotential, ihre subkulturellen Aktivitäten und die Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Erreichung der Vollzugsziele negativ auffallen. Damit war unter anderem das Ziel verbunden, das Ausmaß des Gewaltvorkommens zu reduzieren, das Abteilungsklima – zumindest – in den anderen Vollzugsabteilungen zu verbessern und somit eine im Hinblick auf die persönliche Veränderung förderlichere Atmosphäre zu schaffen. Dunkelfeldbefragungen der Inhaftierten zu diesen Themen wurden vor der Differenzierungsmaßnahme und ein Jahr später durchgeführt. Der Vortrag berichtet über Ergebnisse.
Freiheitsstrafen aus Sicht von Inhaftierten
Melanie Wegel (ZHAW, Zürich)
Die Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen steht in einem Kontext zum Sinn und Zweck und auch der Wirkung von Strafen, sowie den Ursachen von Kriminalität. Ausgehend von den Straftheorien nach Kant, Hegel, Durkheim und List, werden Aspekte wie Abschreckung, Besserung, Stärkung von Normen, Sühne oder auch Vergeltung fokussiert. Die meisten Studien zu Punitivität nehmen die Gesellschaft und deren Einstellungen in den Blick. Was Inhaftierte jedoch über Sanktionen denken, ist weitgehend unbekannt. Um diesem Desiderat nachzugehen, wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes, welches vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde (Wertorientierungen und Lebenswelten im Strafvollzug, Nr. 162380), eine quantitative Befragung mit 742 Schweizerischen Inhaftierten durchgeführt. Im Blick stehen hier vor allem die Gründe für die Akzeptanz oder auch Ablehnung der eigenen Freiheitsstrafe. Im Rahmen des Vortrages werden erste Befunde darüber vorgestellt, was für einen Sinn Inhaftierte in einer Freiheitsstrafe sehen und wie diese die Ursachen von Kriminalität bewerten. Es wird postuliert, dass jeder funktionalen Straftheorie eine Kriminalitätstheorie zugrunde liegt und die Einstellung zu Strafen, sowie die Erfahrungen mit der Justiz eine Akzeptanz der Freiheitsstrafen beeinflussen. Mit den Daten aus der quantitativen Befragung mit Schweizerischen Inhaftierten aus dem Straf- und Massnahmeeinrichtungen der gesamten Schweiz wird dieser Zusammenhang empirisch überprüft.
Unterschiede in der Wahrnehmung des Arbeitsalltags zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Schweizer Justizvollzugs: Eine Gender-Perspektive
Conor Mangold (Universität Bern)
Anna Isenhardt (Universität Bern)
Ueli Hostettler (Universität Bern)
Im Schweizer Justizvollzug hat die Zahl der Mitarbeiterinnen in fast allen Arbeitsbereichen zugenommen, insbesondere auch in Arbeitsbereichen, in denen zuvor traditionell wenige Frauen arbeiteten. In der Vergangenheit wurden Anstalten im Justizvollzug als «gendered» Institutionen (Acker 1990, 1992) beschrieben, die traditionelle Gender Rollen begünstigen und verstärken, was u.a. zu Problemen in der Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen führte. Bisher ist im Schweizer Justizvollzug wenig bekannt darüber, ob Männer und Frauen ihren Arbeitsalltag unterschiedlich erleben. Gerade weil absolut und anteilmässig gesehen zunehmend mehr Frauen im Justizvollzug arbeiten, sollten wir uns jedoch mit dem Phänomen der «gendered» Institution auseinandersetzen. Aus diesem Grund beschäftigt sich der vorliegende Beitrag auf der Basis von Daten einer ausführlicher Studie (N=1667), die sich mit dem Arbeitsklima im Schweizer Justizvollzug auseinandersetzt, und basierend auf bisherigen Studien, welche das Phänomen der «gendered» Institution untersucht haben (z. B. Britton, 2003), mit der Frage nach Genderverhältnissen in Anstalten des Schweizer Justizvollzugs. Ziel ist zu untersuchen, ob sich Frauen und Männer in der Wahrnehmung ihres Arbeitsalltags unterscheiden, wie sie beispielsweise ihre Arbeit mit Kollegen und Kolleginnen, Vorgesetzten und Gefangenen erleben oder wie sie ihre Arbeitszufriedenheit einschätzen. Zudem befasst sich dieser Beitrag auch mit der Frage, ob der Arbeitsplatz, an dem die Mitarbeitenden vor der Arbeit im Justizvollzug tätig waren, einen Einfluss auf potenzielle Unterschiede in der Wahrnehmung des Arbeitsalltags zwischen den Geschlechtern hat. Es wird untersucht, ob Personen die von anderen «gendered» Institutionen in den Justizvollzug wechseln, sich von denjenigen unterscheiden, die keine Erfahrung in einer «gendered» Institution haben und wie potenzielle Unterschiede zwischen diesen Gruppen mit den entsprechenden Vorerfahrungen zusammenhängen.