„Sag, wie hast du’s mit der Kriminologie?“ – Die Kriminologie im Gespräch mit ihren Nachbardisziplinen

Panel 17 - Theoretische und methodische Herausforderungen der Dunkelfeldforschung

14:00 – 15:30 Uhr im SR 1, Hof 1

Moderation: Veronika Hofinger

„Wir sind keine Tiere hier“ – Theoretische und methodische Herausforderungen einer Befragung unter Häftlingen in Polizeianhaltezentren

Hannah Reiter (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Wien)

Der Beitrag beleuchtet theoretische und methodische Herausforderungen einer Umfrage unter Angehaltenen in österreichischen Polizeihaftzentren (Verwaltungsstraf- und Schubhaft). Im Gegensatz zum klassischen Strafvollzug dauern die dort stattfindenden Haftepisoden maximal wenige Wochen, sodass die sozialen Beziehungsstrukturen der Häftlinge relativ flüchtig sind. Dennoch treffen wichtige Merkmale totaler Institutionen auch auf Polizeianhaltezentren zu. Obwohl es sich nicht um eine Dunkelfeldbefragung im engeren Sinn handelte, widmeten sich zentrale Teile unseres standardisierten Erhebungsinstruments Erfahrungen mit Gewalt unter Angehaltenen bzw. durch das Personal an Häftlingen. Zudem wurden selbstschädigende Handlungen (etwa Selbstverletzungen oder Essensverweigerung) abgefragt. Anhand der Ergebnisse zu diesen Themen diskutieren wir die Qualität der erhobenen Daten. Welche Rolle spielen sprachliche Hürden im Rahmen de Erhebung? Was bedeuten die Selbstauskünfte der Befragten? Wie lassen sich die beobachtbaren großen Unterschiede zu administrativen Zählungen erklären? Welche Merkmale der Befragten korrelieren mit entsprechenden Auskünfte über krisenhafte Situationen? Indem wir ausgewählte Ergebnisse überdies ergänzend in den Kontext offen erhobener Antworten und Befunde aus qualitativen Interviews stellen, wird die Interpretation der quantitativen Daten zusätzlich bereichert. Nach unserer Ansicht sollten die Ergebnisse der Datenanalyse nicht als privilegierter Zugang zu einer objektiv gegebenen Wahrheit, sondern als Abbild eines Kommunikationsprozesses verstanden werden, das als solches durchaus wertvoll ist – nicht nur für die betreffende Organisation, sondern auch für die Wissenschaft.


„Ich kenne keine Angst“. Zu den methodischen Herausforderungen bei Erhebungen zur Gewaltprävalenz im Gefängnis

Veronika Hofinger (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Wien)
Andrea Fritsche (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Wien)

Um Gewalt in totalen Institutionen entgegenwirken zu können, bedarf es solider empirischer Grundlagen: Unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen werden welche Personen(gruppen) Opfer von Gewalt und wie geht die Institution mit den Vorfällen um? Durch Dunkelfeldbefragungen können auch solche Gewaltvorfälle analysiert werden, die der Institution bzw. der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Gerade im Gefängnis ist von einem großen Dunkelfeld auszugehen: Das Melden von Übergriffen wird als Verrat angesehen, so genannte „Wamser“ müssen mit weiterer Gewalt durch Mitinsassen rechnen. In einer stark hierarchisierten Gefängniskultur ist insbesondere die Grenze zwischen psychischer Gewalt und traditionell männlich geprägten Handlungsmustern fließend. In einer aktuellen Fragebogenerhebung zu psychischer, physischer und sexueller Gewalt im Gefängnis befragen wir 350 Häftlinge zu Haftbedingungen und Viktimisierungserfahrungen. Dabei sammeln wir nicht nur Daten zu im Dunkelfeld verbliebenen Gewaltvorfällen, sondern werden auch mit den Grenzen der Ausleuchtung des Dunkelfelds konfrontiert. Denn auch wenn wir den besonderen Herausforderungen einer solchen Befragung in Haft mit verschiedenen Maßnahmen zu begegnen versuchen – etwa indem qualifizierte, mehrsprachige InterviewerInnen ausführliche face-to-face Gespräche führen –, prägen Habitus der Gefangenen und Gefängniskultur die Ergebnisse in einem nicht exakt spezifizierbaren Ausmaß und erfordern besondere methodische Sensibilität sowie ergänzende qualitative Erhebungen. In den Befragungen offenbart sich uns ein Klima, in dem man keine Schwäche zeigen darf, wo die Positionierung als Opfer die Gefahr birgt, erst recht zum Opfer zu werden, und wo demonstrative Stärke den besten Schutz vor Viktimisierung bietet. Zudem zeigt sich, dass die Frage, was Gewalt ist, kein objektives Faktum, sondern Definitionsprozessen unterworfen ist und durch Sozialisationserfahrungen, soziale Position und Gefängniskultur mitbestimmt wird.


Im Labor unbestimmter Gefahren: Zählkarten, Strafnachrichten und Erhebungen in Gefängnissen im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert

Sophie Ledebur (Humbolt-Universität, Berlin)

Am Vorabend der Etablierung der deutschen Kriminalstatistik im Jahre 1882 wurde ihre Notwendigkeit im „Kampf gegen die Armee des Verbrechens" mit dem Eclaireurdienst verglichen. Die Analogie der Statistik mit Techniken des Auskundschaftens und Ausspähens im Kriege verweist auf den Wunsch des Antizipierens von Gefahren. Die erstmalig eingesetzten Zählkarten setzten die Produktion eines gigantischen Zahlenwerks in Gang mit dem große Hoffnungen in der Erkenntnis von Kriminalität verbunden waren. Über die quantitative Erfassung der Verbrechen hinaus erlaubte das System der Zählkarte persönliche Angaben zu den Straftätern zu erfassen. Das sogenannte Urmaterial ließ sich jedoch nur bedingt auswerten und offenbarte die Grenzen der klassischen Kriminalstatistik. Individualisierte Erhebungen wurden jedoch hinter den Mauern der Gefängnisse fortgesetzt. Im Zusammenhang mit der Strafrechtsreformbewegung fokussierten und verfestigten sie Kategorien wie der Rückfälligkeit von Verbrechern und der ‚vermindert Zurechnungsfähigen'.


Gewaltprävalenz als Ausdruck von Sprechmächtigkeit: Fallstricke und Grenzen der Untersuchung von Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen

Hemma Mayrhofer (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Wien)

Gewaltprävalenzstudien sollen dazu beitragen, das sogenannte Dunkelfeld an verübten bzw. erfahrenen Gewalthandlungen aufzudecken, d.h. Gewalt sichtbar zu machen, die nicht über die offizielle Anzeigen- oder Verurteilungsstatistik bzw. in anderer Weise formal abgebildet und erkennbar wird. Üblicherweise erfolgt die methodische Annäherung über die repräsentative Befragung einer Zufallsstichprobe an Personen der Grundgesamtheit, die über ihre Gewaltbetroffenheit oder auch über selbst gesetzte Gewalthandlungen Auskunft geben sollen. In der Umsetzung solcher Studien stellen sich erhebliche methodische Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen. Ganz zentral für die Aussagekraft der erhobenen Daten ist die Frage danach, in welchem Ausmaß und in welcher Weise die befragten Personen bereit oder in der Lage sind, über ihnen widerfahrene (oder auch von ihnen verübte) Gewaltformen zu berichten.

Die eben abgeschlossene Studie „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen“, in der erstmals österreichweit die Prävalenz von Gewalt an Menschen mit Behinderungen bzw. psychischer Beeinträchtigung empirisch erfasst wurde, weist in den multivariaten statistischen Analysen mehrfach auf Faktoren hin, die das Vermögen und die Bereitschaft, Gewalt benennen zu können, reduzieren oder auch erhöhen. Im Input werden ausgewählte Faktoren näher vorgestellt und ihre Auswirkungen auf die Sprechmächtigkeit der befragten Personen diskutiert sowie methodische Konsequenzen für die Umsetzung von empirischen Studien zur Erfassung von Gewaltprävalenz daraus abgeleitet.

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