Panel 14 - Radikalisierung im digitalen Zeitalter: Konzeptionen - Gründe - Netzwerke - Methodische Zugänge
11:00 – 12:30 Uhr im HS C1, Hof 2
Moderation: Katharina Leimbach
Qualitative Radikalisierungsforschung – Hindernisse und Potentiale
Katharina Leimbach (Leibniz Universität Hannover)
Der Beitrag soll sich mit Hindernissen und Potenzialen einer methodisch qualitativ ausgerichteten Radikalisierungsforschung befassen und dies entlang der eigenen Forschung verdeutlichen. Die Darstellungen sind anschlussfähig an aktuelle, überwiegend international stattfindende Diskussionen um qualitative Kriminologie (Boeri, Lamonica 2015) und die Möglichkeiten bzw. Hindernisse von qualitativer Forschung im Kontext von Radikalisierungsthematiken.
Im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojektes „Radikalisierung im digitalen Zeitalter“ führte ich, für das Teilvorhaben der Leibniz Universität Hannover, deutschlandweit Interviews mit Expert*innen und Adressat*innen von selektiven und indizierten Extremismuspräventionsmaßnahmen. Als Erhebungsinstrumente wurden neben leitfadengestützten Interviews auch biographisch-narrative Interviews für die (ehemaligen) radikalisierten Personen und Aussteiger*innen eingesetzt. Die ersten Herausforderungen stellten sich bereits während des Feldzuganges. Zeitgleich agierende Forschungsverbünde mit ähnlichen Forschungszielen und die politisierten Diskurse um Radikalisierungsprävention erschwerten die Rekrutierung von Interviewpersonen. Inbesondere die Gewinnung von geeigneten Personen aus dem Adressat*innenfeld, stellte ein wenig erfolgsversprechendes Unterfangen dar. Ingesamt konnte ich 15 biographisch-narrative Interviews mit (ehemaligen) Rechtsextremisten*innen und Islamisten*innnen führen. Zusammen mit den Expert*inneninterviews konnten 43 Interviews geführt werden, deren Analyse ein zeitaufwendiges, aber auch erkenntnisreiches Vorgehen bedeutet. Die Potenziale eines qualitativen Interviewdatensatzes liegen vor allem darin, dass sich verschiedene Fragestellungen damit bearbeiten lassen und die Daten Raum geben fernab bestehender Hypothesen neue empirische Erkenntnise zu erhalten. Die Analyse der Interviews erfolgt mit einem Methodenmix aus Kodierprozeduren der Grounded Theory und einer an die Objektive Hermeneutik angelehnte Feinanalyse.
Neben einem Feld- und Forschungsbericht aus der eigenen Interviewstudie dient der Beitrag dazu den Einsatz qualitativer Methoden bei kriminologischen Fragestellungen zu diskutieren und einen stärker methodisch geprägten Diskurs in der Kriminologie zu etablieren.
Radikalisierungsgründe bei Jugendlichen
Carl Philipp Schröder (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.)
Laura-Romina Goede (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.)
Lena Lehmann (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.)
Die Anzahl an Forschungsprojekten zum Thema Radikalisierung hat sich in den letzten Jahren stark erhöht. Dabei kann festgestellt werden, dass die methodischen Zugänge zu diesem Thema äußerst vielfältig sind. Quantitative Studien, insbesondere im Bereich Islamismus, sind jedoch nach wie vor rar. Um die in der Literatur bislang gefundenen oder postulierten Risiko- und Schutzfaktoren für islamistische, rechtsextreme und linksextreme Radikalisierung analysieren und vergleichen zu können, sind mitunter standardisierte, quantitative Mehrthemenbefragungen notwendig, um belastbare Daten zu generieren. In dem Vortrag werden ausgewählte Ergebnisse hinsichtlich Risiko- und Schutzfaktoren der Schüler*innenbefragung „Jugendliche Perspektiven auf Politik, Religion und Gemeinschaft (JuPe)“ präsentiert. Im Jahr 2018 wurden 6.700 Schüler*innen in elf deutschen Bundesländern vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes „Radikalisierung im digitalen Zeitalter – Risiken, Verläufe und Strategien der Prävention (RadigZ)“ befragt. Anhand der Daten können Risikofaktoren analysiert und ihre Bedeutung hinsichtlich rechtsextremer, linksextremer und islamistischer Einstellungen und Handlungen verglichen werden.
Radikalisierungsprozesse – eine Netzwerksicht
Nicole Bögelein (Universität zu Köln)
Jana Meier (Universität zu Köln, Institut für Kriminologie)
Im Sommer 2019 brandete in Deutschland anlässlich des Mordfalls an einem Politiker und Drohungen gegen weitere Politiker die Diskussion um die Organisationsweise im Rechtsextremismus erneut auf. Unter anderem stellte sich die Frage, ob es sich in der Regel um Einzeltäter oder um Netzwerke von Personen handelt. Im Rahmen unseres Projektes „Biografie- und Netzwerkanalyse zu (De-)Radikalisierungsverläufen“, welches als Teil des Verbundprojektes „Radikalisierung im digitalen Zeitalter“ durchgeführt wird, werten wir qualitativ erhobene egozentrierte Netzwerke von Personen aus, die einen Radikalisierungsprozess durchlaufen haben. Uns interessiert, welche Rolle Netzwerke in der sozialen Welt für eine Radikalisierung spielen, konkret: Welchen Einfluss haben soziale Netz-werke auf Prozesse der Radikalisierung, also den Anschluss von Personen in extremistische Gruppen? Über Netzwerke kann der Einstieg in eine Subkultur erfolgen. Egozentrierte Netzwerke eigenen sich für Forschungsfragen, die sich mit dem Ausmaß, Typus und den Folgen von (Des-)Integration von Akteuren in deren soziale Umwelt beschäftigen.[1] Im Gegensatz zu Gesamtnetzwerken, geht es um das Netzwerk aus Sicht einer Person. Dabei betrachten wir Entstehungs- und Ansatzpunkte für Prozesse der Radikalisierung. Wir analysieren Eigenschaften der Beziehungen zwischen Radikalisierten und deren Referenzpersonen sowie die relevanten Eigenschaften der Referenzpersonen in einem Radikalisierungsprozess.
Uns liegen Netzwerke in Form konzentrischer Kreise für 13 männliche Personen vor; diese haben wir im Anschluss an biographische Interviews mit den Befragten erhoben. Wir haben dabei konkrete Kontaktpersonen, deren Eigenschaften und die Beziehungen zwischen den Kontaktpersonen erfragt. Außerdem interessierte uns die Einschätzung des Befragten, inwiefern die für ihn relevanten Netzwerkpersonen ebenfalls bereit waren, sich zu radikalisieren. Die Ergebnisse präsentieren wir in unserem Vortrag.
[1] Jansen, Dorothea (2006): Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 65
Kriminologische Theorieintegration
Klaus Boers (Universität Münster, Institut für Kriminalwissenschaften)
Die Integration kriminologischer Theorien hat bereits in den 1980er Jahren eine intensive Debatte unter U.S.-amerikanischen Kriminologen ausgelöst. Travis Hirschi war dagegen („Seperate and unequal is better“). Delbert Elliott war dafür. Gemeinsam mit Ageton und Canter hatte er in einem theoretischen Modell zur Auswertung des National Youth Survey (der ersten kriminalsoziologischen Verlaufsstudie) Strain-, Kontroll- und Lerntheorien integriert. Seit-dem werden im Kanon kriminologischer Theorien auch die vor allem im Rahmen von Verlaufsuntersuchungen entwickelten theoretischen Integrationen geführt. Denn so ist es möglich die unterschiedlichen Ebenen kriminologischer Erklärungen (Makro, Meso, Mikro) in einem theoretischen Modell empirisch zu analysieren. Dabei ist zum einen ein eklektisches Auswählen von Variablen aus verschiedenen Theorien zu vermeiden. Zum anderen kann es freilich nicht primär um den vollständigen Erhalt der jeweils „reinen“ vorherigen Theorien gehen. Theorien dienen der Erklärung und erfüllen keinen Selbstzweck. Im Kern geht es deshalb weniger um die Integration von Theorien, sondern um die theoretisch plausible Verbindung unterschiedlicher Erklärungsebenen, was vor allem wegen der nun möglichen Analyse indirekter und direkter Effekte die Aussagekraft einer theoretischen Konzeption steigern kann. Schließlich müssen in einem vollständigen kriminologischen Erklärungsmodell neben den ätiologischen Entstehungsgründen – und entgegen der bisherigen Übung auch die Wirkungen sozialer Kontrollinterventionen berücksichtigt werden.