Panel 13 - Jugendstrafvollzug / ambulante jugendstrafrechtliche Sanktionen / Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug
11:00 – 12:30 Uhr im HS B, Hof 2
Moderation: Karin Neßler
Veränderungsvorschläge zum weiblichen Jugendstrafvollzug – eine Chance für den gesamten Jugendstrafvollzug?
Johanna Beecken (Universität zu Köln, Institut für Kriminologie)
Die Randstellung von weiblichen Jugendstrafgefangenen im deutschen Jugendstrafvollzug ist bisher hauptsächlich als Problem für diese Gruppe aufgefasst worden. Sie sind zu wenige für einen eigenständigen Vollzug und werden bei der Unterbringung daher – je nach Bundesland unterschiedlich – bei anderen quantitativ stärkeren Gefangenengruppen untergebracht. Ihre spezifischen Bedürfnisse können so bei der Vollzugsgestaltung nur marginal berücksichtigt werden.
Die geringe Gruppengröße könnte allerdings auch eine Chance bieten – und zwar für den gesamten Jugendstrafvollzug. Mit dieser kleinen Gruppe junger Frauen könnten neue Konzepte bei der Unterbringung von allen Jugendstrafgefangenen erarbeitet und erprobt werden. Die geringe Anzahl ermöglicht es, alle weiblichen Jugendstrafgefangenen einzubeziehen und nicht nur eine ausgewählte Stichprobe. Trotzdem blieben die Pilotprojekte z.B. ein Ausbau des Jugendstrafvollzuges in freier Form in einem überschaubaren Rahmen. Begleitet von wissenschaftlicher Evaluation könnte eine stetige Verbesserung der Projekte erfolgen. Diese Erfahrungen helfen schließlich für den gesamten Jugendstrafvollzug alternative Strukturen zu entwickeln.
Der Vortrag skizziert die Charakteristika der weiblichen Jugendstrafgefangenen und die Besonderheiten ihres Vollzuges. Daraus ergibt sich, welche Bedürfnisse in der Praxis für einen frauenspezifischen Jugendstrafvollzug berücksichtigt werden müssen. Auf dieser Basis werden nun verschiedene Vorschläge entwickelt, die jungen Frauen nicht im geschlossenen weiblichen Erwachsenenvollzug oder männlichen Jugendstrafvollzug unterzubringen, sondern die Vollzugsgruppe aufzuteilen und andere Vollzugsformen zu nutzen und neue zu erproben.
From prison with love – Die Jugendstrafanstalten der Oregon Youth Authority
Jana Winter (Diakonie Saar)
Können wir vom Resozialisierungsprogramm, für inhaftierte Jugendliche und Heranwachsende, der Oregon Youth Authority lernen?
Wir alle kennen diese USA-Knastdokus aus dem Fernsehen, die zeigen mit welcher Strenge man die “härtesten” Gefängnisinsassen der USA unter Kontrolle bringt. Von denen sollen wir in Deutschland oder Europa lernen können? Wohl eher kaum. Das ist vermutlich der erste Gedanke, der jemandem durch den Kopf gehen muss, der sich mit dem Thema Strafvollzug beschäftigt. Kommen die Amerikaner nicht zu uns, um sich die neusten Behandlungsmethoden im Jugendstrafvollzug anzuschauen, um sie dann bestenfalls in den USA umzusetzen?
Der Vortrag soll dem Zuhörer einen Einblick in die Arbeit der Oregon Youth Authority (OYA) geben, welche entgegen der aus Knastdokus bekannten Behandlungsmethoden die Arbeit im Jugendstrafvollzug derart optimiert und auch schon optimiert hat, dass die Jugendlichen während ihrer Haftzeit eine bestmögliche Entwicklung vollziehen können.
Um dies zu verdeutlichen, wird es in dem Vortrag zunächst um das “Positive Human Development (PHD)” als Grundlage ihrer Arbeit gehen, welches im Zuge des “Youth Reformation Systems (YRS)” implementiert wurde. Danach folgt ein kurzer Abriss der baulichen und organisatorischen Strukturen vor Ort, sowie die Vorstellung diverser Begrifflichkeiten und Umgangsformen. Hierzu wird beispielsweise erklärt, wie es sein kann, dass sich Jugendliche ohne Aufsicht auf dem Anstaltsgelände bewegen können und warum ein Du das neue Sie ist. Welche Untersuchungen OYA durchführt um eine bestmögliche Entwicklung der Jugendlichen und Heranwachsenden zu erreichen, welche Behandlungsmaßnahmen sich daran anschließen, was bei der ganzen Arbeit einen hohen Stellenwert einnimmt und welche Rolle u.a. Tattoos und Facebook bei der Behandlung spielen, wird im Folgenden erläutert. Abschließend findet eine kritische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Strafrechtssystem statt und es wird ein Überblick über Rückfallquoten von Jugendstrafanstalten der USA und Oregon geboten.
Risiko- und Schutzfaktoren von Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug
Thomas Bliesener (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen)
Die überwiegende Mehrzahl der Studien zu Gewalt im Vollzug hat sich mit den Tätern befasst. Forschung zu Prävalenzen und Prädiktoren von Viktimisierungserfahrungen während der Haft ist vergleichsweise rar. Entsprechende Untersuchungen sind allerdings von Bedeutung, um feststellen zu können, welche Personen ein besonders hohes Viktimisierungsrisiko aufweisen und welche äußerlichen (d.h. anstaltsbezogenen) Umstände Gewalthandlungen begünstigen oder reduzieren. Zu diesem Zweck wurden die Selbstauskünfte von über 2.600 männlichen Inhaftierten aus 37 Justizvollzugsanstalten bzw. -abteilungen analysiert. Die Daten wurden in den Jahren 2011 und 2012 im Rahmen einer Gefangenenbefragung in fünf Bundesländern vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen erhoben. Die männlichen Gefangenen im Erwachsenenvollzug, deren Daten für diese Analysen herangezogen werden, waren im Durchschnitt 36 Jahre alt; etwa ein Fünftel hatte einen Migrationshintergrund. 15,4 % der Inhaftierten gaben an, in den vier Wochen vor der Befragung Opfer von physischer Gewalt durch einen oder mehrere Mitgefangene geworden zu sein. Die Ergebnisse einer binär-logistischen Regressionsanalyse zeigen, dass sowohl personen- als auch anstaltsbezogene Faktoren signifikant mit dem Viktimisierungsrisiko assoziiert sind. Sexualstraftäter und Gefangene, die elterliche Gewalt erlebt haben, weisen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, Opfer von Gewalt im Vollzug zu werden. Ferner zeigt sich ein höheres Viktimisierungsrisiko bei Inhaftierten, die längere Haftstrafen (mind. 1 Jahr) zu verbüßen haben und in der Vergangenheit selbst Gewalt gegen Mitgefangene angewendet haben. Einen risikoreduzierenden Effekt haben gewaltbefürwortende Einstellungen, ein positives Verhältnis zu den Mitgefangenen und eine Unterbringung im offenen Vollzug. Alter und Migrationshintergrund der Gefangenen zeigen keinen signifikanten Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung. Implikationen dieser Ergebnisse für die Vollzugspraxis und weitere Forschungsvorhaben werden diskutiert.
„Alltagshürden“ bei der Erfüllung ambulanter jugendstrafrechtlicher Sanktionen - Finanzielle Begleitkosten als Gefahr für die spezialpräventive Zielsetzung im Jugendstrafrecht?
Karin Neßeler (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Es ist allgemein anerkannt, dass jugendliche und heranwachsende Beschuldigte vor finanziellen Belastungen, die ihre künftige Entwicklung negativ beeinflussen können, zu schützen sind. Dies wird bislang v.a. mit Blick auf Verfahrenskosten und die strafprozessuale Einziehung diskutiert. Kaum Beachtung fand in diesem Zusammenhang bisher die Tatsache, dass eine Ahndung mit ambulanten jugendstrafrechtlichen Sanktionen viele Jugendliche und Heranwachsende oftmals zwingt, zu deren Erfüllung die Verkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs zu benutzen. Der Erwerb eines Fahrscheins - was für die Mehrzahl der Bevölkerung eine notwendige, wenn auch lästige Begleiterscheinung ist - stellt zahlreiche junge Menschen vor Herausforderungen. Aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten (gelegentlich aber auch aufgrund fehlender Kostenakzeptanz) kann dies bei ihnen Reaktionen provozieren, die in nicht wenigen Fällen zu (mit Blick auf die spezialpräventive Zielsetzung im Jugendstrafrecht) problematischen Folgen führen. Möglich ist bspw., dass die Betroffenen nicht zur Maßnahme erscheinen und bei ihnen deshalb ein sog. Ungehorsamsarrest verhängt wird. Entscheidet sich der Jugendliche bzw. Heranwachsende dazu, „schwarz zu fahren“, kann dies nicht nur die Belastung mit einem erhöhten Beförderungsentgelt nach sich ziehen, sondern auch eine Strafanzeige und ein weiteres Strafverfahren. Zur Beantwortung der Frage, ob und inwieweit es sich hierbei um eine „nur theoretische“ oder um eine reale Problemlage handelt, wurde in München in den Jahren 2018 und 2019 eine schriftliche Befragung bei knapp 400 Jugendlichen und Heranwachsenden durchgeführt, bei denen aktuell oder in der jüngeren Vergangenheit eine ambulante jugendstrafrechtliche Sanktion angeordnet worden war. Vorgestellt werden sollen die Ergebnisse dieser Befragung sowie der ergänzend durchgeführten leitfadengestützten Interviews.