„Sag, wie hast du’s mit der Kriminologie?“ – Die Kriminologie im Gespräch mit ihren Nachbardisziplinen

Panel 12 - „Asozial“ – Traditionen der Ausgrenzung und der Stigmatisierung

11:00 – 12:30 Uhr im HS A, Hof 2

Moderation: Brigitte Halbmayr

„Asozial“ im Nationalsozialismus – Behördliche Routinen der Stigmatisierung von Frauen

Brigitte Halbmayr (Institut für Konfliktforschung, Universität Wien)

„Arbeitsverweigerung“, „Geheimprostitution“, „Triebhaftigkeit, „Verwahrlosung“, „mittel- und unterstandslos“, „Willensschwäche“, „liederlicher“ Lebenswandel – so lauten Begründungen, warum Frauen verhaftet und in Arbeitsanstalten oder Konzentrationslager eingewiesen wurden. Manche wurden zudem zwangssterilisiert, wenn ihre „Asozialität“ als erblich bedingt beurteilt worden war.

In meinem Vortrag werde ich auf die Konstruktion der „asozialen Frau“ durch Behörden und die Umsetzung der Verfolgung im Gau Wien fokussieren. Da es bis Kriegsende keine gesetzlich verbindliche Definition von „gemeinschaftsfremd“ bzw. „asozial“ gab, war der Ermessensspielraum der Behörden hoch. Im Mittelpunkt steht daher der „Apparat“ im Sinne eines „Macht-Wissen-Komplexes“ (Mark Terkessidis 1998), der für die Implementierung geschaffen wurde, wie etwa die Einrichtung von „Asozialenkommissionen“ und die damit verordnete Zusammenarbeit verschiedener staatlicher Einrichtungen (Verwaltung, Gesundheits- und Arbeitsamt, Polizei, Justiz) unter der Ägide der NSDAP. Dabei werde ich insbesondere den geschlechtsspezifischen Aspekten in der Konstruktion von ‚Asozialität‘ und der administrativen Handhabung nachgehen.


Der Akteur Gericht. Kontinuitäten nationalsozialistischer Vorstellungen am Beispiel des Umgangs der Republik Österreich mit Täter_innen im Bereich der Verfolgung von „Asozialen“

Elke Rajal (Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien)

Im Zentrum meines Beitrags steht die justizielle Ahndung von Verbrechen gegen als »asozial« stigmatisierte Frauen in Österreich, welche Aufschluss über die Sicht auf »Asozialität« im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende geben soll. Gesetzliche Grundlagen und die Vollzugspraxis trugen wesentlich zur Fortschreibung von Diskriminierung und Ausgrenzung von als »asozial« verfolgten Personen bei. Mein Vortrag rollt die Frage auf, inwiefern in den Ermittlungs- und Strafverfahren das Stigma der »Asozialität« auf die Verfahren selbst und deren Ausgang einwirkte.

Die legistischen Voraussetzungen für die Ahndung von Kriegsverbrechen wurden in Österreich mit der Beschließung des Kriegsverbrechergesetzes (KVG) am 26. Juni 1945 durch die Provisorische Regierung geschaffen. Damit konnten unter anderem Taten wie »Kriegsverbrechen« (§ 1 KVG), »Quälerei und Misshandlungen« (§ 3 KVG) und »die Verletzung der Menschenwürde« (§ 4 KVG) verfolgt und bestraft werden. Hierfür wurden in den alliierten Zonen vier Volksgerichte als Schöffengerichte geschaffen (Wien, Linz, Graz und Innsbruck). Neben dem KVG waren das Verbotsgesetz und das österreichische Strafgesetz Grundlage für die Verurteilung. Eine Zäsur in der Volksgerichtsbarkeit zeichnet sich mit Beginnen des Kalten Krieges um das Jahr 1948 ab. Während bis dahin von einer durchaus engagierten Entnazifizierungspraxis gesprochen werden kann, wurden danach viele Strafverfahren eingestellt, Vorerhebungen führten häufig zu keiner Einleitung eines Strafverfahrens und die gefällten Urteile fielen deutlich milder aus.

Als Fallbeispiel für meinen Vortrag dient das Strafverfahren gegen Alfred Hackel – Leiter einer Arbeitsanstalt für »asoziale« Frauen in Wien (Am Steinhof) – und andere Beschuldigte. 1945/46 fand das erste Verfahren statt, 1948 wurde der Fall wieder aufgerollt. Im Zuge des Verfahrens wurden besonders viele Opfer befragt, weshalb expliziten wie impliziten Darstellungen dieser als »Asoziale« verfolgten Frauen nachgegangen werden kann. Durch die Aufrollung des Strafverfahrens im Jahr 1948 können zudem Veränderungen in der Wahrnehmung und Charakterisierung der Opfer in den ersten Nachkriegsjahren besonders gut nachgezeichnet werden.


Schutz des Kindeswohls? Die Wiener Jugendwohlfahrt zwischen Auftrag und Exklusion

Gudrun Wolfgruber (Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien)

Aufgrund ihres Wirkens an der entscheidenden Schnittstelle zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Amt/Gesetz und Klientel ist die Jugendwohlfahrt zentral an der Setzung und Bestätigung historisch kontingenter Normen zu öffentlicher als auch privater Reproduktion beteiligt. Im Zentrum meiner Ausführungen steht die Beteiligung der Jugendwohlfahrt, resp. ihrer AkteurInnen an Selektionspraktiken der NS- Rassenideologie sowie ihr Beitrag an der Konstruktion sowie der Zu- und Festschreibung der „Asozialität“ von Kindern und ihren Familien. Darüber hinaus werden leitende Traditionen von Ausgrenzungspraktiken der Jugendwohlfahrt, ausgehend von den 1920er Jahren bis in die 1980er Jahre in den Blick genommen.

Der Kampfbegriff der „Verwahrlosung“ der eugenisch orientierten Jugendwohlfahrt der 1920er Jahre wurde im Nationalsozialismus in „Asozialität“ transponiert. In den Nachkriegsjahrzehnten wurden Maßnahmen der Jugendwohlfahrt mit dem Vorliegen „fehlender Sozialanpassung“, sog. „Dissozialität“ und „Devianz“ legitimiert. Vor der Folie des gesetzlichen Auftrags zum „Schutz des Kindeswohls“ und den je zeitgenössischen Diskursen der Jugendwohlfahrt werde ich der Frage nachgehen, wie und warum Kinder und Jugendliche weiterhin in Heimen, Pflegefamilien untergebracht oder in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen und verwahrt wurden.


"Die Enkel der Osmanen" - Tagelöhner im Münchener Bahnhofsviertel

Rita Haverkamp (Juristische Fakultät, Universität Tübingen)
Kaan Atanisev (Juristische Fakultät, Universität Tübingen) 

In München ist der graue Arbeitsmarkt im südlichen Bahnhofsviertel seit Jahren etabliert. Im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojektes SiBa (Sicherheit im Bahnhofsviertel) wurden betroffene Tagelöhner und verschiedene Akteure im Umfeld des grauen Arbeitsmarktes interviewt. Aus diesen Interviews ergibt sich, dass die arbeitssuchenden Männer von den dort ansässigen Gewerbetreibenden und Anwohnern häufig mit Unsicherheit und Kriminalität in Verbindung gebracht werden. Ihre vielfache Wahrnehmung als „social incivilities“ zieht für die Tagelöhner multiple Diskriminierungs- und Viktimisierungserfahrungen nach sich. Ihre geringe Qualifikation in Bildung und Beruf – Analphabetismus ist verbreitet – ermöglicht ihnen in der Regel nur die Aufnahme von (illegalen) Beschäftigungen im Niedriglohnsektor, bei denen nicht selten die Vergütung zu niedrig ausfällt oder ganz ausbleibt. Angesichts der Perspektivlosigkeit in ihren Heimatregionen zieht der graue Arbeitsmarkt dennoch viele Arbeitssuchende an, die vor allem aus dem Süden Bulgariens stammen und dort einer ausgegrenzten ethnischen Minderheit angehören. Eine klare ethnische Zuschreibung gestaltet sich jedoch als schwierig, da die Tagelöhner nicht nur unterschiedliche Sprachen (bulgarisch, türkisch, rumänisch und/oder serbisch) beherrschen, sondern auch unterschiedliche Religionszugehörigkeiten (christlich oder muslimisch) aufweisen. Eine mitunter geäußerte Eigenbezeichnung „Enkel der Osmanen“ zeigt die ursprüngliche Herkunft an. Neben den historischen Wurzeln dieser ethnischen Minderheit geht es im Vortrag insbesondere um Prozesse der ethnischen Selbst- und Fremdzuschreibung der Tagelöhner im Bahnhofsviertel, um dann sowohl dem komplexen Aushandlungsprozess von Zugehörigkeiten als auch dem Zuschreibungsprozess von Kriminalität im städtischen Kontext nachzugehen.

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